Schweizer Architektur aus chinesischer Sicht

Bingy Li wurde 1987 in Shanghai geboren. Sie lebt seit 2009 in der Schweiz und hat Architektur in Shanghai und an der ETH Zürich studiert. Wertschätzung für Handwerkskunst, Leidenschaft für Baukultur und die Erforschung des Unbekannten sind Elemente, die Bingyis Arbeit und Leben prägen und in Verbindung mit chinesischen Wurzeln zu einer gleichermassen spannenden und effizienten Zusammenarbeit führen. Architektur mit ihr gemeinsam zu entwickeln und zu planen ist effizient, kulturell wertvoll und inhaltlich spannend zugleich.

Was hat Dich bewegt, nach Zürich zu kommen? Was verbindet Shanghai und Zürich aus Deiner Sicht und worin unterscheiden sich diese beiden Städte am meisten?

Der Grund, um nach Zürich zu kommen, war rein akademisch. An der ETH den Masterabschluss zu erwerben, ist ein relativ häufig gewählter Weg an der Tongji Universität, an welcher ich meine Ausbildung zum Bachelor absolviert habe. Auf die Einführung in die Architektur-Welt haben deutschsprachige Architekten einen grossen Einfluss, weshalb ich dieses Thema am Ursprung vertiefen wollte. In Shanghai erhielt ich die Wissensbausteine, welche an der ETH Zürich zu einem kompletten Wissensgebilde zusammengesetzt wurden.
Shanghai hat absolut flaches Terrain, im Gegensatz dazu ist Zürich geografisch sehr vielfältig. Im Städtebau in Shanghai sind alle Standorte sehr homogen. Studien können bereits mit dem 2D-Plan begonnen werden. In Zürich gibt es so viele komplizierte Terrains, dass eine 3D-Analyse zwingend notwendig ist.

Was bedeutet Architektur für Dich und welche Rolle spielt 3D-Druck dabei?

Architektur zeigt mir einen anderen Blickwinkel auf die Welt. Die erste Erkenntnis, welche ich in meinem Studium erhielt, war, dass alles von Hand konzipiert wurde – egal, wie industriell es aussieht. 
3D-Druck ist die Zukunft, aber es gibt noch viel zu tun. Es geht auch darum, zur Urfrage der Architektur zurückzukommen: Inhalt oder Form? Falls 3D-Druck so günstig wird, wie auf Papier zu drucken, dann sollten wir alle Bauelemente mit neuen Druckverfahren vorfabrizieren. 3D-Druck in der Architektur würde viele Anwendungsgebiete erschliessen, ausser bei komplizierter Geometrie.

Welche Rolle wird Bauen in der Zukunft haben? Was wird sich aus Deiner Sicht verändern (müssen)?

Seit der Industrialisierung hat sich das Fachgebiet der Architektur nicht verändert. Bau-Körper waren limitiert durch Physik und Industrie. Alles muss auf Material-Wissenschaft, Maschinenbau und inländischen Lieferanten basieren. Falls es keinen Durchbruch in den Naturwissenschaften gibt, werden Architekten nur bestehende Konzepte neu mischen. Alles ist handgemacht und wird handgemacht bleiben.

Wir haben viel über Bau-, Wohn- und Esskultur in China und der Schweiz gesprochen. Weshalb haben in China neue Räume eine «Ruhephase» vor dem Bezug und welche Rolle spielen Chilis?

In China haben wir einige wichtige Rituale zwischen Baubeginn und Fertigstellung. Beim Baubeginn muss beispielsweise ein Opfer für die Götter erbracht werden. Bestimmte Gegebenheiten erfordern bestimme Feste während der Balkensetzung. Aber heutzutage ist bei kleinen Bauten alles weniger förmlich. Die Ruhephase ist in der chinesischen Kultur notwendig, da wir glauben, dass ein neuer Raum Schadstoffe enthält, welche zuerst ausgelüftet werden müssen, da eine Vielzahl von verschiedenen Materialien in einem Raum zusammenkommen. Diese erfüllen zwar einzeln alle Schadstoff-Grenzwerte, die Kombination überschreitet diesen Grenzweit jedoch. 
Im historischen China wurden physikalische Gegenstände gegen spirituelle Angst und Unsicherheit eingesetzt. Unter allen Giebeln in der verbotenen Stadt wurden “5 Metalle, 5 Getreide, 5 unterschiedliche Schnüre und 5 medizinische Anwendungen» platziert. Chinesischer Pfeffer, Zinnober und Sandelholz sowie Kampferbaum und Realgar werden oft für die Verbesserung des Raumklimas in Gebäuden eingesetzt, da der Glaube existiert, dass Geister, Insekten und Schlangen durch die Gerüche ferngehalten werden. In der chinesischen Medizin sind diese Geschmäcker auch mit Wohlstand und Fertilität assoziiert.

Diesen Monat ziehst Du mit Deiner Familie in Eure neue Eigentumswohnung. Latrace durfte Dich in der Planung, insbesondere bei der Materialisierung und Farbgestaltung begleiten. Was hat Dich als professionelle Architektin zur Zusammenarbeit bewogen und wie hat sie sich auf das Resultat ausgewirkt?

Die individuelle Ausgestaltung nach unseren Bedürfnissen liegt ausserhalb meiner Kernkompetenz als Architektin. Zudem hatte Dr. Ines Klemm bereits ein tiefgreifendes Netzwerk an sehr talentierten Handwerkern, welche mich in meinem Bauvorhaben substanziell mit ihrem Fachwissen unterstützen konnten.
Darüber hinaus hatte sie ein vertieftes Verständnis für die Wahrnehmung vom Zusammenspiel von Farben, Materialien und Emotionen. Dieses analytische Vorgehen gestaltete die Auswahlphase für meinen Mann und mich klarer und fokussierter.

Welche Eigenschaften müssen Wohnräume in Zukunft haben und wie mobil sollten sie sein? Wäre es die gleiche Antwort für Shanghai und Zürich oder glaubst Du, dass die Menschen dieser Kulturen im Kern sehr unterschiedliche Ansprüche haben?

In jeder Kultur gibt es einen ‘perfekten’ Wohnraum. Dieser Wohnraum ist stark mit lokalen Gewohnheiten und Lieferanten verbunden. Beispielsweise ist es in China üblich, die Dusche komplett gefliest zu haben, eine bodenebene Duschplatte wird jedoch als sehr luxuriös angesehen, während in der Schweiz die Wahrnehmung von Wertigkeit und Aufwand ganz anders ist, oft sogar genau umgekehrt.
Jede Diskussion über Wohnraum endet schlussendlich beim Preis, in diesem Sinne sind die hohen Lebenskosten die grösste Gemeinsamkeit zwischen Shanghai und Zürich. Die Anpassung an diese Umstände prägt die Ausgestaltung des Wohnraumes in beiden Kulturen und Städten. Daher ist eine Diskussion über den minimalen Wohnraum interessanter: In Shanghai können Wohnzimmer und Esszimmer nicht belichtet werden, Balkone können als Raumerweiterung des Zimmers verwendet werden, jedoch müssen die Toiletten zwingend an der Fassade sein. Die Küche muss abschliessbar sein. Der Familienschrein ist immer zwischen Schlafzimmer und Küche platziert. In Zürich spielen Wohnzimmer und Balkon eine grössere Rolle.

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