Begabung, Persönlichkeit, Talent: Über die Zusammenhänge von vernetztem Denken und Verantwortung / Vít Kortus im Gespräch

Vít Kortus ist Referent in der Studienstiftung und promovierender Historiker im Gebiet der frühneuzeitlichen Geschichte Böhmens. Er hat in Freiburg Geschichte, Kunstgeschichte und Vergleichende Geschichte der Neuzeit studiert. Zeitlich vor seiner Arbeit in Bonn war er als Koordinator der Graduiertenschule am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ an der WWU Münster tätig.

Vit, was fasziniert Dich am meisten an Deiner Aufgabe und der Zusammenarbeit mit Begabten?

Was mich fasziniert, sind die unterschiedlichen Einblicke und Perspektiven, die mir die Begabten in einem persönlichen Kontakt anbieten; dass ich dadurch die Chance erhalte, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Das bereichert mich sehr. Zudem gefällt es mir, dass ich Leute treffen kann, die für ihre Sache brennen, weil ihnen etwas wichtig ist. Es sind zumeist Menschen, die sich Gedanken über andere Menschen machen sowie darüber, wie sie die Gesellschaft mitgestalten können, und die den Mut zur Verantwortung haben. Ich finde es eine wunderbare Aufgabe, diesen Leuten ein wenig helfen zu können, ihre Talente und ihre Begabungen zum Tragen zu bringen, zu kultivieren und ihre Ideen zu einer Reihe von wichtigen Themen unserer Gegenwart umzusetzen. Wenn man sieht, was Stipendiaten alles an Fähigkeiten haben und machen – das ist phänomenal.

Wie und woran erkennt man Deiner Meinung nach Talent?

Ich meine, Talente an der Leichtigkeit zu erkennen, mit der man etwas tut. Was nach aussen leicht aussieht, ist gemeinhein nicht leicht zu machen. Talent ist die Fähigkeit, auch schwere Sachen leicht aussehen zu lassen. Das fasziniert mich. Und was Talent auch braucht, ist ein anregendes und zugleich unterstützendes Umfeld – und das auf die Person selbst bezogen: Fleiss. Ich glaube nicht, dass Talent ohne Fleiss funktionieren kann – und umgekehrt. Wenn ich beeindruckt bin, denke ich häufig an Talent und sage: Der Mensch ist talentiert. Dann ist es egal, worauf sich das Talent bezieht. Man kann für alles Talent haben.

Die Gesellschaft unterscheidet oft zwischen Kunst und Wissenschaft. Würdest Du sagen, dass es auch einen Zusammenhang und etwas Verbindendes gibt zwischen Kunst und Wissenschaft? Wie würdest Du den Zusammenhang beschreiben?

Ich glaube, das Trennende ist, dass Wissenschaftlichkeit und Kunst anders gemessen werden. Das Verbindende ist, dass eine Gesellschaft beides braucht und dass beides kein Selbstzweck ist. Man kann weder auf das eine noch auf das andere verzichten. Einige Wissenschaften versuchen, sich der „Wahrheit“ zu nähern, einige arbeiten mit dem Begriff der Plausibilisierung – und diese beiden Ziele sind eine Art Messlatte, an der wissenschaftliche Aussagen und deren Urheber*innen sich messen lassen müssen. Die Gesellschaft braucht die Kunst, weil sie eine Möglichkeit ist, sich auszudrücken. Die Kunst hält der Gesellschaft den Spiegel vor. Deshalb ist es absolut notwendig, dass man Kunst pflegt. Vielleicht ist das Verbindende auch die Reflexionsfähigkeit. Vielleicht ist das Verbindende aber auch, dass sowohl Wissenschaft als auch Kunst den Menschen schult, die Welt anzusehen. Die Kunst sowieso, weil man sich als Betrachter mit einbringt. Und die Wissenschaft schärft unseren Blick. Und sowohl Kunst als auch Wissenschaft erklären uns die Welt.

Die Begabtenförderung der Studienstiftung hat eine lange Tradition und richtet sich seit fast 100 Jahren an die Abiturient*innen und Studierenden mit überdurchschnittlichen Lernleistungen. Welchen Stellenwert hat die Fähigkeit zu vernetztem Denken und Erkennen von Zusammenhängen bei der Auswahl von Stipendiat*innen seitens der Studienstiftung des deutschen Volkes?

Wir leuchten im Auswahlprozess fünf Dimensionen aus. Eine der Dimensionen sind kognitive Fähigkeiten. Ich glaube, dass der Begriff kognitive Fähigkeiten nicht an etwas Einzelnes gebunden oder überzeitlich statisch ist, sondern dass es sich um eine Fähigkeit und einen Vorgang handelt, der sich immerwährend wandelt. Beispielsweise verstand man unter kognitiven Fähigkeiten im Jahr 1925 wohl etwas anderes als heute, und 2030 wird es wieder anders sein. Das hängt mit der Struktur der Welt zusammen. Die heutige Lebenswelt ist derart komplex geworden, dass es das vernetzte Denken braucht, um der Komplexität zumindest ein wenig Herr zu werden. Die Zeit, in der Wissen eindeutig zuzuordnen war, ist eindeutig vorbei; mir scheint, dass der angemessene Zugang zur heutigen Welt derjenige der Interdisziplinarität ist Aus dem Prozess der Vernetzung entsteht Innovation: das heisst, dass man bestimmte vorhandene Zusammenhänge erkennt oder neue Zusammenhänge erschließt, die die Wissenschaft und das Denken generell voranbringen. Das ist in der Metapher angelegt: Man hat Knotenpunkte, die zusammenhängen. Bisweilen hört man, dass unterschiedliche Disziplinen sich in grundunterschiedlichen Sprachen ausdrücken, die miteinander nicht kompatibel sind. Doch: Auch Irritationen können produktiv sein. Ob der Zusammenhang Bestand hat, kann (und muss) mit wissenschaftlichen Methoden bewiesen werden – was einen weiteren wissenschaftlichen Prozess an- und vorantreibt.

Welche besonderen Persönlichkeitsmerkmale bringen Deiner Meinung nach Stipendiat*innen der Studienstiftung des deutschen Volkes mit?

Wir würden uns wünschen, dass wir empathische Menschen in die Studienstiftung aufnehmen – Menschen, die in der Lage sind, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und sich dementsprechend auch für andere einsetzen, weil sie die Fähigkeiten besitzen, deren Standpunkte, deren unterschiedliche soziale Realitäten und Ausgangspunkte zu verstehen. Ausserdem geht es um Mut zur Verantwortung. Es geht um Menschen, die das Bedürfnis haben, die eigenen Fähigkeiten in den Dienst der anderen zu stellen und die den Drang verspüren, immer Neues zu lernen und das eigene Leben als einen permanenten Zuwachs an Fähigkeiten verstehen. Meine Hoffnung ist, dass sie auch humorvoll und offen sind.

Welche Farbe kommt Dir für Begabung in den Sinn und wie würdest Du Begabung beschreiben?

Orange – Gold – weil ich durch das Logo der Studienstiftung geprägt bin. Begabung hat man für etwas. Begabung bezieht sich immer auf eine relativ klar abgetrennte Fähigkeit, eine Realität oder einen Gegenstand. In meinen Augen ist es die Leichtigkeit, einen Gegenstand schnell zu erfassen. Bei Begabung denkt man automatisch daran: ‹Der*diejenige hat etwas bekommen, der*diejenige hatte einfach Glück.› Doch: Jede Begabung kann auch unausgeschöpft bleiben, sie kann ohne Fleiss und das richtige Umfeld verkümmern. Man kann es Fleiss oder Kultivierung nennen – man muss auf jeden Fall etwas damit machen. Es bedarf sowohl des Zutuns der*des Begabten, um etwas daraus zu machen, als auch eines Umfeldes, das anregt und herausfordert, unterstützt und voranbringt. Begabung ist wie ein Muskel: Wenn man den Muskel nicht trainiert, verringert sich die Leistungsfähigkeit. Begabung ist nichts Statisches, sondern etwas Dynamisches und steht immer in Verbindung zur Welt. Und was auch wichtig ist: Wenn man Begabung als etwas einer*einem Gegebenes ansieht, blendet man die Verantwortung, die damit einhergeht, tendenziell aus. Die Verantwortung ist die zweite Seite der Medaille – und auch die Erwartungen, die an einen gestellt werden. Ich höre oft Diskussionen um den Begriff der Privilegien – und keiner spricht von den Erwartungen, die die Studienstiftung an die Stipendiat*innen stellen – und die finde ich immens.

Was bedeutet Wohlbefinden für Dich?

Wohlbefinden ist ein Zustand, den ich gerne erreichen möchte. Es ist in meinen Augen ein Zustand, in dem ich – zum Glück! – nicht permanent sein kann, weil man Wohlbefinden normalerweise als Kontrast zu Unwohlsein definieren und schätzen lernen kann. Und es ist eine Frage der Lebenseinstellung. Ich glaube nicht, dass das Wohlbefinden nur von aussen kommt, sondern dass es ein Zusammenspiel ist von zwei Kräften ist – von Kräften von aussen und Kräften von innen. Es kommt sehr darauf an, mit welcher Lebenseinstellung man die Realität betrachtet.

Du bist in Vimperk in Tschechien, geboren und aufgewachsen und lebst seit 2007 in Deutschland. Was liebst Du an und in Deiner Wahlheimat Bonn? (Lieblingsorte, Lieblingsessen, Lieblingsbeschäftigung)

Den Rhein und die rheinische Frohnatur. Der Rhein ist mein absoluter Lieblingsort, und die Zugewandtheit, die man im Rheinland erfährt, gefällt mir sehr gut. Und ich mag auch den Klang der Sprache sehr, wie man ihn im Rheinland vernehmen kann.

Dieses Interview wurde 2021 während der August-Sommerakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes und des Max Weber-Programmes in Bad Staffelstein geführt, an der vom 22.-29. August 2021 Dr. Ines Klemm zusammen mit Dr. med. dent. Christian Tennert (PD) die interdisziplinäre Arbeitsgruppe «Ernährung, Architektur, Kultur – Wie sich Ess- und Baukultur gegenseitig beeinflussen» geleitet haben.

Die Freude der Stipendiat*innen und Referent*innen war spürbar gross, dass endlich wieder in Präsenz zusammengearbeitet, gedacht und gelacht werden konnte. Die Akademien haben eine lange Tradition in der Begabtenförderung und geniessen auch einen ganz besonderen Stellenwert bei allen Teilnehmenden, weil sie die Möglichkeiten bieten für interdisziplinären Austauschen bieten. Die intensive gemeinsame Zeit bildet die Basis vieler Forschungsgemeinschaften, Freundschaften und Beziehungen, die einen das ganze Leben lang begleiten – beruflich und privat.

Die Studienstiftung ist das älteste Begabtenförderungswerk in Deutschland, dessen Schirmherr der Bundespräsident ist. Sie ist partei- und religionsunabhängig und fördert bereits seit 1925/1948 Hochbegabte. «Ihr Zweck ist die Förderung der Hochschulbildung junger Menschen, deren hohe wissenschaftliche oder künstlerische Begabung besondere Dienste für die Gesellschaft erwarten lassen.» Die Regionalgruppe Schweiz hat fast 1000 Mitglieder, mit starker Konzentration im Raum Zürich. Neben den Alumni sind auch ca. 100 aktive Stipendiaten dem Netzwerk in Zürich (ETH, Universität) angeschlossen.

Weitere Informationen: www.studienstiftung.de