Hausrundgang mit allen Sinnen: Analyse des Einfamilienhauses von Le Cobusier in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart

Im 3. Studiensemester erhielten wir von unserem Professor, Peter-Aribert Herms, die Aufgabe, ein Gebäude der Weißenhofsiedlung in Stuttgart zu analysieren. Es galt, in einer Präsentation dessen Hauptmerkmale und Struktur zu vermitteln, ohne dass wir Ansichten, Grundrisse, Modelle oder Schnitte nutzen durften. Im Klartext war die Aufgabe, eine Ikone der Architektur des 20. Jahrhunderts zu beschreiben, ohne sich der Sprache der Architektur zu bedienen. Wir durften in Zweiergruppen arbeiten.

Mein Projektpartner und ich entschieden uns, das Einfamilienhaus von Le Corbusier zu untersuchen. Zu Beginn der Recherche wurde klar, dass jede Wand im Inneren des Hauses eine andere Farbe hatte. Die daraus resultierende Idee war einfach – ihre Umsetzung äusserst aufwändig, zeitintensiv und lehrreich. Wir beschlossen, einen virtuellen Rundgang durch das Haus zu machen. Unser Ansatz war, auf das Instinktverhalten des Menschen zu vertrauen und darauf, dass man seinen Kopf dorthin wendet, woher Geräusche und Klänge kommen. Richtet man seinen Kopf darauf aus, sieht man die Farbe der Wand, vor der man steht. Das zeitliche Intervall bestimmte sich aus der zurückzulegenden Entfernung zwischen den einzelnen Räumen des Hauses. Als Präsentationsraum dienten vier leere, weisse Stellwände. Jede Stellwand wurde mit je einem Lautsprecher und einer Vorrichtung für farbige Folien ausgestattet, wie man sie im Theater und der Oper nutzte. Mein Projektpartner war zeitgleich als professioneller Beleuchter an der Oper Stuttgart engagiert, was uns leihweise Unterstützung und Zugang zu den farbigen Folien ermöglichte.

Da ich zum Projektstart gerade von einer vierwöchigen Reise aus dem sehr farbigen Mexiko zurückgekehrt war, ergriffen mich Freude und Enthusiasmus über die Farbvielfalt und ich begab mich auf eine Pigmentreise in meiner Studienstadt Stuttgart. Dabei kam ich zum ersten Mal mit Le Corbusier’s «Polychromie Architecturale» in Berührung, traf verschiedene Malerbetriebe und mischte in der Künstlerwerkstatt der Akademie der Bildenden Künste alle Farben unter der Anleitung unserer Werkstattleitung aus echten Pigmenten nach. Mischen, aufstreichen, trockenföhnen, Abstufungen finden und weitermischen – es war ein wirklich spannender und faszinierender Prozess. Parallel dazu las ich alles, was ich zu Le Corbusier und seinen Farben finden konnte.

Um die passenden Töne und Klänge zu finden, die unserer Meinung nach am besten jeden einzelnen Raum und Korridor repräsentierten, machten wir aufwändige Aufnahmen von Geräuschen, beispielsweise einer Waschmaschine beim Schleudern, Treppensteigen, vorbeifahrenden Autos und Besteck beim Essen.

Während der Präsentation waren unser Professor sowie unsere Kommilitonen eingeladen, unseren «Raum» aus weissen Stellwänden zu betreten – ohne Kenntnis unseres Vorhabens. Bereits beim ersten Ton drehten sich alle Köpfe zum Lautsprecher aus dem der Klang ertönte. Die Farbe der Wand wurde eingeblendet und schon forderte einer der anderen vier Lautsprecher Aufmerksamkeit und Drehen der Köpfe. So wanderten alle durch das Haus und bekamen einen guten Eindruck über dessen Grösse, Struktur und Zimmeranordnung. Auch das entsprechende Befinden konnte vermittelt werden, da unser Rundgang ein Erlebnis für alle Sinne war – denn jeder Teilnehmende reagierte intuitiv, wenngleich von uns gesteuert. Unser Projekt erhielt die Bestnote, weil die Aufgabe komplett erfüllt wurde. Ich selbst arbeitete seither an der Durchdringung der Farben, weil mich deren Komplexität und Wirkung sowohl in den Strassen Mexikos als auch bei Le Corbusier am Weißenhof faszinierte und klar war, diese Intensität der Wechselwirkung von Befinden und Empfinden kann kein Zufall sein.